Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
Wir fangen einfach damit an, mit der Person Freundschaft zu schließen, die wir heute sind - egal wie unvollkommen, ungeschickt und ratlos wir uns fühlen mögen.
(Christopher Germer)
Was ist das eigentlich Selbstmitgefühl? Einfach ausgedrückt bedeutet es, sein eigener Freund zu sein. Vor allem dann, wenn wir einen Freund am nötigsten haben. Also wenn wir uns in einer Krise befinden. Für die meisten klingt das vermutlich wenig spektakulär. Aber viele Selbstverurteilungen und Herabsetzungen, mit denen wir uns häufig belasten, laufen in uns ab, ohne dass wir es bewusst registrieren. Sehr oft sind wir nicht in Kontakt mit uns selbst, sondern spulen unser Programm ganz automtisch ab.
Was wir allerdings registrieren, ist, dass es uns schlecht geht, wir wütend sind, traurig oder enttäuscht. Während wir für unsere Freunde in kritischen, schmerzhaften Situationen in der Regel tröstende, aufmunternde und verständnisvolle Worte haben, gehen wir mit uns selbst in solchen Momenten oft sehr hart ins Gericht.
Mensch zu sein, bedeutet Unvollkommenheit. Es bedeutet, Fehler zu machen und Schmerz zu erfahren. Etwas, das wir mit allen anderen gemein haben. In Momenten der Krise vergessen wir das oft. Wir haben dann den Eindruck, das wir diese Erfahrung exklusiv haben. Ein Gefühl, dass uns von den anderen trennt und weiteren Schmerz verursacht. Aber zur selben Zeit machen unzählige Menschen da draußen gleiche oder ähnliche Erfahrungen wie wir. Sich dessen bewusst zu sein, stärkt das Gefühl der Verbundenheit und hilft uns, uns in einem freundlicheren Licht zu sehen. Das ist einer der Gründe, warum Selbsthilfegruppen, in denen Menschen zusammen kommen, um eine schmerzhafte Erfahrung zu teilen, solch eine heilende Kraft haben.
Achtsamkeit ist ein Weg, auf dem wir lernen zu akzeptieren, dass Schmerz und Unzulänglichkeiten universelle Erfahrungen sind, die jeder Mensch ungeachtet seiner Herkunft durchlebt. Etwas, das uns hilft, zu verstehen, dass wir mit allem verbunden sind. Auf diesem Weg lernen wir auch, dass wir uns lieben und wertschätzen können, ohne vorher eine Leistung erbracht zu haben, oder von jemandem »die Erlaubnis« dafür bekommen zu haben. Dass wir es ungeachtet unserer »Schwächen« wert sind, geliebt zu werden.
Wenn wir beginnen, Mitgefühl mit uns selbst zu haben, entwickeln wir auch die Fähigkeit, Mitgefühl mit anderen zu haben. Beides fundamentale Bestandteile der Achtsamkeit.
Achtsamkeit und schwierige Gedanken/Gefühle
Jeder Mensch muss sich von Zeit zu Zeit mit schwierigen Gefühlen auseinandersetzen. Häufig neigen wir dann dazu, solche Gefühle zu verdrängen. Wie bei schwierigen Gedanken geht es auch bei den Gefühlen in der Achtsamkeit darum, sich nicht von ihnen abzuwenden, sondern hinzuschauen. Die Herausforderung besteht darin, diese Gefühle zuzulassen. Das heißt, sie nicht wegschieben zu wollen und sich auch nicht in sie zu verstricken; sie stattdessen zu beobachten, wie sie kommen und gehen, ohne sie mit gut oder schlecht zu etikettieren. Einen Schritt zurückzutreten und sehen, was geschieht, wenn wir einmal anders mit schwierigen Gefühlen umgehen.
Den meisten von uns fällt es schwer, sich schwierigen Gefühlen zu stellen. Sie sind gewissermaßen fremdes Terrain, vor dem wir ein Leben lang geflüchtet sind. Das ist nicht verwunderlich. Niemand möchte schlechte Gefühle haben. Das Problem ist, dass uns diese Gefühle überall hin folgen, wenn wir sie verdrängen. Egal wohin wir gehen.
Wir können lernen, sie nicht als Feinde zu betrachten, als etwas, das wir loswerden wollen, sondern als unvermeidlichen Bestandteil des Lebens, mit dem man seinen Frieden schließen kann, wenn man seine Existenz erst einmal akzeptiert hat. Akzeptanz ist dabei ein Schlüsselwort. Die Dynamik verändert sich sofort, wenn man eine schwierige Situation akzeptiert. Das heißt nicht, dass man sie gut findet oder etwa resigniert, sondern dass man schlicht anerkennt, dass sie existiert und ihr keinen inneren Widerstand entgegensetzt. Mit dieser Haltung fällt es wesentlich leichter, sich an die Lösung eines Problems zu machen. Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, lernen wir, diese innere Haltung zu kultivieren.
3 - Minuten Atemraumübung
Wenn Sie im Alltag extrem gefordert sind und Sie manchmal nicht wissen, wo Ihnen der Kopf steht, gibt es Übungen, die dabei helfen können, auch in schwierigen stressigen Situationen ein gewisses Maß an Kontrolle zu behalten und nicht in den Autopilot-Modus zu verfallen und von seinen Gefühlen übermannt zu werden.
Eins dieser Tools ist die 3 - Minuten Atemraumübung. Je vertrauter Sie damit sind, desto leichter fällt es Ihnen, sie in schwierigen Situationen anzuwenden. Sie bietet Ihnen die Möglichkeit, einen Raum zwischen Reiz und Reaktion zu schaffen, der Ihnen in einer stressigen Situation hilft, bewusst zu agieren, anstatt automatisch zu reagieren. Die Übung muss nicht exakt drei Minuten lang sein. Je nachdem, wie viel Zeit Ihnen zur Verfügung steht. Das können auch eine oder aber zwei Minuten sein. Passen Sie die Übung einfach Ihren zeitlichen Möglichkeiten an. Wichtig ist vor allem die Aufmerksamkeit, die Sie der Übung schenken.
1. Aufmerksamkeit sammeln. (Wertfrei wahrnehmen, was ist: Welche Gedanken habe ich? - Welche Gefühle? - Wie fühlt sich mein Körper an?)
2. Die Aufmerksamkeit auf den Atem richten. (Ist er flach oder tief? - Bauch oder Brust? - Wo spüren Sie ihn?)
3. Die Aufmerksamkeit ausdehnen. (auf den Körper - das Gesicht; sich allem öffnen, was gerade präsent ist, ohne es zu beurteilen.) Ein paar Mal achtsam ein und ausatmen.
Achtsamkeit - Zitate
Das größte Geschenk der Achtsamkeitspraxis besteht darin, dass sie mir in jedem Moment ermöglicht, mein Leben zu ändern, indem ich meine Geisteshaltung ändere.
(Doris Kirch)
Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind.
(Henry David Thoreau)
Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Das Glück deines Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab.
(Marc Aurel)
Das Paradies ist kein Ort, wo man hingeht, sondern ein Bewusstseinszustand.
(Steven R. Covey)
Es ist nicht leicht, das Glück in uns zu finden, und es ist ganz unmöglich, es anderswo zu finden.
(Nicolas de Chamfort)
Grundhaltungen der Achtsamkeitspraxis:
Durch diese inneren Haltungen, die in der formalen und informellen Achtsamkeitspraxis kultiviert werden, wird die Essenz dessen, was Achtsamkeit ausmacht, zum Ausdruck gebracht.
Anfängergeist
- bedeutet, sich offen und völlig unvoreingenommen auf etwas einzulassen. Wenn wir den Anfängergeist kultivieren, sind wir möglichst frei von Erwartungen und Bewertungen. Unabhängig davon, was wir bereits zu wissen glauben, weil wir eine solche oder ähnliche Erfahrung vielleicht schon einmal gemacht haben. Eine Haltung, die häufig dazu führt, dass wir denken: Kenne ich schon, hab ich schon, war ich schon, brauch ich nicht.
Nicht werten
- diese Haltung wird entwickelt, in dem wir die Position eines neutralen Beobachters einnehmen, das heißt, die eigene Neigung alles sofort zu kategorisieren und in positiv, negativ oder neutral einzuordnen, beobachten. Sehr oft führt dieser Impuls dazu, dass wir unbewusst und wie auf Autopilot reagieren. In der Achtsamkeit nehmen wir die fortwährende Neigung, allem sofort einen Stempel aufzudrücken, nur wahr, ohne uns zu verstricken oder zu identifizieren.
Akzeptanz
- bedeutet nicht gut heißen, sondern annehmen und akzeptieren, dass ein Problem bereits besteht. Es geht darum, dem Schmerz keinen zusätzlichen Widerstand entgegenzusetzen und ihn damit nicht noch zu verstärken. Schmerz ist eine unvermeidliche Erfahrung im Leben, aber der Widerstand dagegen ist optional. Wenn wir in der Lage sind, eine schmerzhafte Erfahrung zu akzeptieren, verringern wir nicht nur ihre Wucht, sondern es fällt uns auch leichter zu erkennen, wie wir mit dem Schmerz umgehen können.
Schmerz + Widerstand = Leid
Loslassen (Nicht anhaften)
- bedeutet eingefahrene schädliche Denkmuster und Verhaltensweisen zu erkennen und lozulassen. - Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit Verlust konfrontiert. Der Verlust materieller Dinge, der Verlust seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, der Verlust seiner Gesundheit, der Verlust von Menschen, die er liebt, und schließlich der Verlust seines Lebens. Es gibt also gute Gründe, in uns die Fähigkeit des Loslassens zu entwickeln. Letztlich geht es auch darum, die Vergänglichkeit allen Seins zu akzeptieren und seinen Frieden damit zu machen.
Nicht streben
- wenn wir gelassener und ruhiger werden wollen, scheint es ein Widerspruch zu sein, nicht danach zu streben. In gewisser Weise könnte man sagen, dass wir ziellos ans Ziel gelangen. In der Praxis der Achtsamkeit erfahren wir, dass dies nur ein scheinbarer Widerspruch ist, und dass es möglich ist, diese Gefühle und Eigenschaften zu kultivieren, ohne ihnen mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit »hinterherzujagen«.
Geduld
- Geduld, dass sich die Dinge in ihrem eigenen Tempo entwickeln und wir sie nicht forcieren müssen.
Vertrauen
- wenn wir die genannten Dinge kultivieren wollen, brauchen wir Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Vertrauen, dass wir lernen können, wie man mit Schmerzen und Ängsten umgeht und so eine gewisse Kontrolle über sie gewinnt. Aber auch Vertrauen in die eigenen Instinkte, die eigene innere Stimme, so dass wir uns nicht vom Zuspruch und der Meinung Anderer abhängig machen. Vertrauen darin zu haben, dass man den Schlüssel zum Glück, zu Gelassenheit und inneren Frieden in den eigenen Händen hält.
Literaturtipps:
23.10.17
Rick Hanson - Das Gehirn eines Buddha (Arbor)
Saki Santorelli - Zerbrochen und doch ganz (Arbor)
Russ Harris - ACT leicht gemacht (Arbor)
Bhante Henepola Gunaratana - Die Praxis der Achtsamkeit (Werner Kristkeitz Verlag)
Jon Kabat Zinn - Full Catastrophe Living - Gesund und streßfrei durch Meditation (O.W. Barth)
Kristin Neff - Selbstmitgefühl (Kailash)
Doris Kirch - Handbuch Stressbewältigung (Mankau Verlag)
Christopher Germer - Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl (Arbor)